Bei frühkindlichen Epilepsien sind differentialdiagnostisch insbesondere die folgenden
Epilepsieformen zu berücksichtigen:
Diagnostik über cerebrale Bildgebung
Epilepsien, die ätiologisch primär über eine cerebrale Bildgebung eingeordnet werden können.
Hiermit werden z. B. hypoxisch-ischämische Schädigungen oder strukturelle Hirnfehlbildungen erkannt. Die bildgebenden Befunde eröffnen potentiell Möglichkeiten einer neurochirurgischen Intervention oder auch einer gezielten genetischen Diagnostik.
Diagnostik über Stoffwechselanalyse
Epilepsien, die primär über eine Stoffwechseldiagnostik erkannt werden. Hierzu gehören eine Vielzahl von Formen, darunter z. B. auch epileptische Enzephalopathien auf dem Boden einer mitochondrialen Funktionsstörung. Besondere Berücksichtigung in der selektiven Stoffwechseldiagnostik sollten die seltenen Formen stoffwechselbedingter Epilepsien finden, die potentiell effektiv behandelbar sind.
Dazu zählen insbesondere:
• Pyridoxin- (und Folinsäure) abhängige Epilepsie
– diagnostischer Therapieversuch
– biochemisch: A-AASA und Pipecolinsäure erhöht
– molekulargenetisch: Mutationen im Gen ALDH7A1
• Pyridoxalphosphat-abhängige Epilepsie
– diagnostischer Therapieversuch
– biochemisch: PNPO erniedrigt, evtl. Neurotransmitterveränderungen i.L., Vanillactat i.U.
– molekulargenetisch: Mutationen im Gen PNPO
• Glukosetransporter-Defekt
– biochemisch: Quotient Liquorglukose /Blutglukose < 0,45
– Ansprechen auf ketogene Diät
– molekulargenetisch: Mutationen im Gen SLC2A1
• Kreatinsynthese-Defekt (insb. Guanidinoazetat-Methyltransferase (GAMT)-Defizienz)
– biochemisch: Guanidinoazetat i.U.
– molekulargenetisch: Mutation im Gen GAMT
• Serinsynthese-Defekt (insb. 3-Phosphoglyzerat-Dehydrogenase-Defizienz)
– biochemisch: AS i.L oder Plasma: Serin erniedrigt
– Enzymdiagnostik an Fibroblasten
– molekulargenetisch: Mutationen im Gen PHGDH
Diagnostik über Molekulargenetik
Um die Auswahl molekulargenetischer Untersuchungen bei Patienten mit einer frühkindlichen Epilepsie zu erleichtern, möchten wir Ihnen eine tabellarische Aufstellung einiger wichtiger Epilepsie-assoziierter Gene anbieten, die sich an klinischen Kriterien – insbesondere dem Alter bei Anfallsmanifestation – orientiert.
Frühkindliche schwere Epilepsien, epileptische Enzephalopathien (Manifestation im ersten Lebensjahr)
Gen |
Manifestation |
Geschlecht |
PMR |
Familienanamnese |
Leitsymptome/Syndrom |
SCN1A |
2–12 Monate |
M/W |
+/– |
meist sporadisch |
Dravet-Syndrom: wiederholte Anfälle, häufig fiebergebunden oder andere Provokationsfaktoren, häufig prolongiert. Semiologie bunt und im Verlauf variabel. Initial normale Entwicklung, später psychomotorische Verlangsamung, evtl. weitere neurolog. Defizite |
PCDH19 |
6–36 Monate |
W |
+/– |
sporadisch oder fast ausschließlich weibliche Betroffene! |
DD zu Dravet bei Mädchen, evtl. autistisches oder aggressives Verhalten. Prognose insgesamt besser als bei SCN1A-Mutationen. Besonderer Erbgang!
Stufendiagnostik bei V.a. Dravet-Syndrom: 1. SCN1A 2. bei Mädchen: PCDH19
|
STXBP1 |
≤ 4 Monate |
M/W |
++ |
meist sporadisch |
Therapierefraktäre infantile Spasmen, tonische oder myoklonische Anfälle. Nur teilweise „suppression-burst“ im EEG, nur teilweise klinische Kriterien des Ohtahara-Syndroms erfüllt, häufig Evolution zum West-Syndrom. Immer mentale Retardierung /Verhaltensauffälligkeiten. Neurologische Defizite (Ataxie/evtl.Gehunfähigkeit) |
ARX |
1–12 Monate |
M |
++ |
sporadisch oder nur männliche Betroffene! |
Therapieschwierige Epilepsie, psychomotorische Retardierung, evtl. Hypsarrhythmie im EEG, evtl. Dystonie |
CDKL5 |
≤ 3 Monate |
W(M) |
++ |
meist sporadisch, meist weibliche Betroffene |
Schwere Hypotonie als Säugling, sehr frühe, sehr häufige und therapierefraktäre Anfälle, unterschiedliche Anfallsformen, evtl. Hypsarrhythmie im EEG, evtl. atypisches Rett-Syndrom (Schlafstörungen, später Handstereotypien, neurologische Defizite) |
FOXG1 |
unterschiedlich |
W(M) |
++ |
meist sporadisch |
„Kongenitales Rett-Syndrom“: primäre psychomotorische Retardierung, kein Augenkontakt, Hypotonie und Irritabilität im Neugeborenenalter, im Verlauf Mikrozephalie |
SLC2A1 (GLUT1) |
meist 1–4 Monate |
M/W |
+/– |
meist sporadisch, evtl. autos. dom. Familienanamnese |
Unterschiedliche Anfallsformen, evtl. den Anfällen um Monate vorausgehende Augenbewegungsstörungen und episodische Apnöen; evtl. neurologische Begleit symptomatik insb. i.S. von dystonen Bewegungsstörungen |
Microarray |
Genomweite Screening-Diagnostik bei epileptischer Enzephalopathie, Nachweis größerer genomischer Deletionen oder Duplikationen, die ursächlich für das Krankheitsbild sein können (z.B. Nachweis einer MECP2-Duplikation als Ursache einer schweren epileptischen Enzephalopathie bei Jungen) |
PMR = psychomotorische Retardierung; M = männlich; W = weiblich
Frühkindliche Epilepsien mit Syndromverdacht (Manifestation meist nach dem 1. Lebensjahr)
Gen |
Manifestation |
Geschlecht |
PMR |
Familienanamnese |
Leitsymptome/Syndrom |
MECP2 |
1–3 Jahre |
W |
+ /R |
meist sporadisch |
Rett-Syndrom, autonome Mitbeteiligung, z.B. Obstipation |
SLC9A6 |
≤ 2 Jahre |
M |
+ |
X-chromosomal: sporadisch oder nur männliche Betroffene |
Initial ähnlich Angelman-Syndrom, kein Spracherwerb, fröhliches Wesen, im Verlauf Entwicklungsrückschritte, Hypotonie, Ataxie, Skoliose, im Jugendalter marfanoider Habitus |
Angelman-Syndrom (Methylierungs- test/UBE3A)
|
1–3 Jahre |
M/W |
+ |
meist sporadisch |
Symptomatik des Angelman-Syndroms. Unterschiedliche Anfallsformen, generalisierte „spezifische“ (?)-EEG-Veränderungen |
PMR = psychomotorische Retardierung; R = Regression; M = männlich; W = weiblich
Weitere frühkindliche Epilepsiesyndrome (Manifestation im ersten Lebensjahr, meist positive Familienanamnese)
Gen |
Syndrom |
Manifestation |
Geschlecht |
PMR |
Familien-anamnese |
Besonderheiten
|
SCN1A SCN1B (seltener) GABRG2 (seltener) |
GEFS+ |
> 6 Monate |
M/W |
– |
oft positiv |
Multiple Fieberkrämpfe (auch nach 6. Lebensjahr oder assoziierte afebrile Anfälle), normales interiktales EEG, medikamentös gut kontrollierbar |
KCNQ2 KCNQ3 (seltener) SCN2A (seltener) |
Benigne familiäre Neugeborenen-krämpfe |
< 1, evtl. – 12 Monate |
M/W |
– |
oft positiv |
Afebrile fokale Anfälle oft mit sekundärer Generalisierung, normales interiktales EEG, medikamentös gut kontrollierbar |
PMR = psychomotorische Retardierung; R = Regression; M = männlich; W = weiblich